Versunkene Täler - neue Landschaften : Geschichte(n) der Stauseen in der Schweiz
Ein Staudamm steht für Energie, Kilowattstunden und Technik. Hinter, unter und rund um die ruhigen Gewässer der künstlich entstandenen Seen existiert allerdings auch eine Kehrseite der Medaille. Ein Staudamm bedeutet Widerstände, Verluste, Niederlagen und Leid. In China hat die gigantische Drei-Schluchten-Talsperre (1993-2009) die Existenz von Millionen von Menschen völlig verändert. Mehr als 1,3 Millionen BewohnerInnen des Yang-Tse Tals wurden zwangsumgesiedelt, als ein riesiger, 600 Kilometer langer Stausee gebaut wurde. Acht Städte wurden überflutet, 116 Dörfer verschwanden und mit ihnen hunderte kulturelle, historische und archäologische Orte. Eine Unternehmung diesen Ausmasses wirkt sich nicht nur auf das soziale und kulturelle Umfeld aus, sondern auch auf die Natur: Eingriffe in das Ökosystem werden vorgenommen, Pflanzen und Tierarten sterben aus, das Klima verändert sich.
In der Schweiz gibt es nichts Vergleichbares. Doch auch hier entstanden viele Staudämme nicht einfach in Gebieten, in denen weder Menschen noch Aktivitäten zu finden waren. Die Staudämme waren von Kontroversen, langen Verhandlungen und multiplen Akteuren umgeben.
Die Schweiz beherbergt das bedeutendste Wasserreservat Europas – sie ist der Wasserturm Europas. Dieses grosse Potential an hydraulischer Kraft wird seit mehr als einem Jahrhundert genutzt, um Speicherkraftwerke und Laufwasserkraftwerke zu betreiben. Heute entsteht mehr als die Hälfte der in der Schweiz produzierten Elektrizität dank Wasserkraft. Strom ist einer der wenigen Werkstoffe, die die Schweiz exportieren kann.
Alte Dorfkapelle der Hinteralp, zw. 1920-1955. © Martin Steiner / Alte Göscheneralp 2008.
Diese Website beschäftigt sich mit der Geschichte von Staudämmen und -seen in der Schweiz aus sozialer und kultureller Perspektive. Die Verwendung und Veränderung von Landschaften, die aus der energetischen Nutzung unterschiedlicher Landschaften hervorgingen, werden von sozialen Prozessen gerahmt, die gleichzeitig Individuen, Dörfer, Täler, Institutionen und die Gesellschaft als Ganzes betreffen. Wir wollen die sozialen und historischen Prozesse, die mit den Planungen und Ausführungen der grossen Staudämme in der Schweiz einhergingen, in ihrer Vielschichtigkeit vorstellen.
Melchior und Louisa Gerig-Mattli mit Kindern, zw. 1920-1955. © Martin Steiner / Alte Göscheneralp 2008.
Blick auf das Dorf im Talboden von der Brätschenfluh aus gesehen, zw. 1920-1955. © Martin Steiner / Alte Göscheneralp 2008.
Der Stolz auf die Genialität der Ingenieurstechnik beim Bau von Stauwerken ist ein wesentlicher Bestandteil der helvetischen Identität. Als zentrale Elemente der energetischen Erschliessung des Landes führen sie allerdings auch zu Protesten und Debatten rund um den Fortschritt und die Erhaltung der Landschaft. Die Reservate rufen Nostalgie und Gefühle des Verlusts hervor. Man denkt an verlorene Täler, Bauernhöfe, Maiensässe, Alpwiesen und Dörfer.
Talboden Göscheneralp, zw. 1920-1955. © Martin Steiner / Alte Göscheneralp 2008.
Heute erscheinen die Betonwände immer mehr als historisches und kulturelles Erbe und stellen erstrangige touristische Attraktionspunkte dar. Verglichen mit der Atomenergie repräsentiert die Wasserkraft die Energie der Zukunft, eine erneuerbare Energie, die der Umwelt nicht schadet. Mit Unterstützung diverser audiovisueller Dokumente – Fotos, Bilder, Interviews, Filme und Radioaufnahmen – will die Website einen zeitgenössischen Blick auf die vielschichtigen Prozesse werfen, die zwischen Technologie, Natur und menschlicher Erfahrung stattfanden.
Etwa zehn Staudämme, alle zwischen 1920 und 1965 gebaut, werden vorgestellt. Es wurden Bauwerke gewählt, die aufgrund ihrer Lage im Umfeld von bewohnten Dörfern oder auf Bergweiden einen sehr starken Einfluss auf die BewohnerInnen und die Region hatten: der Stausee d’Emosson (Barberine, Vieux-Emosson, Emosson 1920-1972, VS), der Lago di Vorgorno (Talsperre Contra, 1965, TI), der Lai da Marmorera (1954, GR), der Greyerzersee (Bogenstaumauer Rossens, 1947, FR), der Lac de Salanfe (1952, VS), der Sihlsee (1937, SZ), der Wägitalersee (Gewichtsstaumauer Schräh, 1924, SZ), der Zervreilasee (1957, GR) und die Staumauer des Lago di Lei (1961, GR). Die präsentierten Projekte führten zu Zwangsenteignungen, Zerstörung von Gebäuden bzw. sogar ganzen Dörfern, zur Umsiedlung von BewohnerInnen oder zu besonders regen Protesten. Ausserdem werden wir zwei nicht realisierte Projekte präsentieren, namentlich ein Projekt im Urserental (1920-1946, UR) und in Rheinwald (1937, GR).
Die Website wird immer wieder erweitert und mit neuem Material ergänzt.
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